Nach Kriegsende steht die Weimarer Republik vor gewaltigen sozialen Herausforderungen. Zehntausende Soldaten kommen schwer verwundet aus dem Krieg zurück, gezeichnet von den traumatischen Erfahrungen, unter denen sie weiter leiden. Vier lange Kriegsjahre und eine schlechte Versorgungslage haben auch in der Heimat unzählige Menschen ausgezehrt. Hinzu kommen Wohnungsnot, Verelendung und eine hohe Arbeitslosigkeit. Trotz aller Probleme formuliert die Sozialpolitik der Weimarer Republik einen hohen Anspruch: Sie garantiert den Rechtsanspruch auf öffentliche Fürsorge und will gleichzeitig den Hilfsbedürftigen nach dem Grundsatz "Hilfe zur Selbsthilfe" größere Eigenständigkeit einräumen.
Abertausende von Kriegsheimkehrern sind versehrt. Entstellte Gesichter und fehlende Gliedmaßen - ganz abgesehen vom seelischen Leid - sind die sichtbaren Folgen des jahrelangen Krieges. Um wenigstens einen Teil der Kriegsversehrten wieder in Arbeit zu bringen, entsteht z. B. im katholischen Josefsheim Bigge bei Brilon eine Drechslerei als Ausbildungsstätte für Kriegsversehrte und Erwerbsbeschränkte.
Die riesige Zahl an Kriegsversehrten führt zu einem veränderten Umgang mit körperlich Behinderten. Zum ersten Mal wird die professionelle Fürsorge für Menschen mit Handicap als eine wichtige staatliche Aufgabe begriffen. Im Rheinland und in Westfalen gründen neben den Kirchen und Kommunen auch die beiden Provinzialverbände (heute Landschaftsverbände) Einrichtungen zur Gesundheitsfürsorge, wie die Taubstummenanstalt in Langenhorst (Kreis Steinfurt)...
...und - wie hier zu sehen - das Frauenwohnheim einer Blindenanstalt in Soest.
In der Weimarer Republik soll Schluss sein mit dem Wegsperren psychisch Kranker und geistig Behinderter in sogenannte Irrenhäuser. Erste vielversprechende Reformansätze und neuartige Therapieformen kommen in den Heil- und Pflegeanstalten der Provinzialverbände den Patient_innen zugute. Neben einer Arbeitstherapie für psychisch Kranke gibt es auch kreative und unterhaltende Angebote, um "Lebensfreude und Gemeinschaftssinn" zu fördern. Mit Erfolg: Patient_innen der Anstalt Eickelborn haben offenbar viel Spaß bei einer Theateraufführung von Wallensteins Lager im Jahr 1927.
Um der grassierenden Arbeitslosigkeit Herr zu werden, gründen die Kommunen und Provinzialverbände Arbeitsämter. Aufgabe dieser Behörde ist es, den Arbeitslosen eine kleine Erwerbslosenfürsorge auszuzahlen (im Volksmund "stempeln gehen") und den Betroffenen so schnell wie möglich wieder Arbeit zu vermitteln. Diese Aufgabe geht 1927 in die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung über.
Im Frühjahr 1932 wird "stempeln gehen" zu einem Massenphänomen: Auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise sind sechs Millionen Menschen in Deutschland arbeitslos. Dieser Herausforderung ist die Weimarer Republik mit ihren noch schwachen Sozialsystemen nicht gewachsen: 1930 zerbricht die letzte parlamentarische Regierung unter Reichskanzler Hermann Müller (SPD) an einer Detailfrage der Arbeitslosenversicherung.
Als die Zuwendungen für das wachsende Heer an Arbeitslosen in der Folgezeit weiter gekürzt werden, kommt es verstärkt zu Protestdemonstrationen. In Lippe ruft die KPD im April 1932 zu einem Sternmarsch auf Detmold auf. Zwischen den 1.200 Teilnehmer_innen und der Polizei kommt es zu einer blutigen Straßenschlacht.
Schon in den ersten Nachkriegsjahren wird der Hunger zu einer einschneidenden Erfahrung für viele Menschen. Anfang der 1920er Jahre stellen Ärzt_innen bei vielen Schulkindern eine "ausgeprägte Blutarmut" fest - untrügliches Zeichen für eine andauernde Mangelernährung. Milchspeisungen an Schulen sollen die schlimmste Not lindern. Finanziert werden diese vor allem durch Spenden von US-amerikanischen und britischen Quäker_innen sowie von Volksküchen, die meist von privaten Vereinen getragen werden.
Schon in den ersten Nachkriegsjahren wird der Hunger zu einer einschneidenden Erfahrung für viele Menschen. Anfang der 1920er Jahre stellen Ärzt_innen bei vielen Schulkindern eine "ausgeprägte Blutarmut" fest - untrügliches Zeichen für eine andauernde Mangelernährung. Milchspeisungen an Schulen sollen die schlimmste Not lindern. Finanziert werden diese vor allem durch Spenden von US-amerikanischen und britischen Quäker_innen sowie von Volksküchen, die meist von privaten Vereinen getragen werden.
Kenner_innen des Zauberbergs von Thomas Mann werden sich bei dieser Szene an den Roman erinnert fühlen. Patient_innen erholen sich bei der Freiluftliegekur im Kurwald Bad Lippspringe. Die bereits seit dem 19. Jahrhundert angewandte Methode gilt als erfolgreiches Heilverfahren zur Behandlung der Lungentuberkulose. Konnten sich diese Anwendung im Kaiserreich nur Wohlhabende leisten, erhalten nun auch weniger betuchte Kranke diese Liegekuren über ihre Krankenkasse verschrieben.
Neben Krankheit, Hunger und Arbeitslosigkeit zählt die Wohnungsnot zu den großen Herausforderungen der jungen Republik. Um kostengünstigen Wohnraum bereitstellen zu können, wird u. a. bereits 1918 die Westfälische Heimstätten GmbH als erste provinzielle Wohnungsbaugesellschaft in Preußen gegründet. Der Verband erlangt Vorbildcharakter für den sozialen Wohnungsbau und beeinflusst maßgeblich die Gesetzgebung in Preußen.
Auch neue Formen des Zusammenlebens werden in der Weimarer Republik ausprobiert, um bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Gemäß den Prinzipien "Selbsthilfe, Selbstverwaltung und Selbstverantwortung" errichtet die sozialdemokratische Baugenossenschaft Freie Scholle bereits 1914 erste Genossenschaftswohnungen für ihre Mitglieder. Zehn Jahre später verwirklicht der Verein mit der Siedlung "Heeper Fichten" in Bielefeld ein weiteres gemeinnütziges Wohnbauprojekt. Zur Siedlung gehören großzügige Gemeinschaftseinrichtungen wie ein Waschhaus, Kinderhort, eine Bibliothek, eine Arztpraxis mit einer Mütterberatungsstelle und preiswerte Läden des Konsum-Vereins.
Nach Kriegsende ist Schluss mit Protz und Prunk - auch in der Architektur. Ein neuer klarer, heller und funktionaler Baustil wie in der Naumannsiedlung in Köln-Riehl hält im Westen Einzug. Gefragt sind vor allem Mietwohnungen, denn die sind knapp und teuer. Laut Artikel 155 der Weimarer Verfassung steht jedem und jeder Deutschen eine "gesunde Wohnung" zu - ein hoher Anspruch, der erst einmal verwirklicht werden muss.
Nicht nur eine "gesunde Wohnung", sondern ausdrücklich eine "ihren Bedürfnissen entsprechende Wohn- und Heimwirtschaftsstätte" fordert die Weimarer Verfassung für alle deutschen Familien, "besonders die kinderreichen". Die Lebenssituation dieser Gelsenkirchener Familie ist davon jedoch weit entfernt: Acht Personen müssen sich zwei Zimmer teilen. Eng, dunkel, feucht und muffig ist es in den Wohnungen, doch mehr gibt das Familienbudget nicht her. Dies ist kein Einzelfall.
Hinter solchen Zeitungsanzeigen steckt nichts Anzügliches: Viele Familien sind derart klamm, dass sie ihre Schlafkammer tagsüber an Arbeiter_innen untervermieten müssen, die in Nachtschicht arbeiten. Diese "Schlafgänger" wärmen tagsüber das Bett vor und gehen am Abend zur Arbeit. Anschließend begibt sich die vermietende Familie in denselben Betten zur Ruhe. Bei solch beengten Verhältnissen ist an Privat- oder auch Intimsphäre nicht zu denken.
Raus aus der Mietskaserne - rein ins Reihenhäuschen. Für 300 vor allem kinderreiche Familien in Duisburg wird dieser Traum 1927 wahr. Mit der Dickelsbachsiedlung entstehen Wohnungen, die bescheidenen Luxus bieten. So verfügt jede Wohnung hinter der schlichten Bauhaus-Fassade über drei Schlafzimmer, eine Toilette und sogar einen kleinen Garten! Die roten Backsteine geben ihr schon bald den Spitznamen "Blutwurst-Siedlung".