Als sich der Rauch der Revolution verzogen hat, beginnt für das Rheinland und Westfalen eine neue Zeit. Die Republik ermöglicht freie Wahlen, Friedens- statt Kriegswirtschaft und den Aufbruch zum modernen Sozialstaat. Jedoch verdunkeln bald schon neue Krisen den Horizont …
sammeln sich in der Nacht vom 8. auf den 9. November 1918 Revolutionäre auf dem Prinzipalmarkt in Münster. Die konservative Bürgerschaft fremdelt allerdings mit der Revolution. "Russische Verhältnisse", "Anarchie" und "Chaos" sind die Begriffe, die sie mit dem Symbol der Revolutionäre verbindet. 18 Jahre nach der Revolution - im Jahr 1936 - färbt der Münsteraner Stadtarchivar die Fahne auf dem Schwarz-Weiß-Foto nachträglich rot ein: Die Fahne wird nun zum Warnsignal, das die verhasste "Systemzeit" eingeläutet hat.
Zu Recht posieren sie stolz für diese Aufnahme. Es sind die Mitglieder des Generalsoldatenrats für den Bezirk des VII. Armeekorps in Münster im Jahr 1918. Der Generalsoldatenrat ist eine Art revolutionäre Übergangsregierung. Die Mitglieder dieser Regierung sind allerdings alles andere als einer Meinung. Wie auch beim großen Vorbild, dem Berliner Arbeiter- und Soldatenrat, gibt es unter ihnen gemäßigte Reformer und radikale Revolutionäre. Ihre Vorstellungen über Deutschlands Zukunft könnten unterschiedlicher nicht sein.
... für den Volks- und Soldatenrat in Detmold ist es, den lippischen Fürsten Leopold IV. zur Abdankung zu bewegen. Am 10. November endet damit auch hier die Monarchie. Ungleich schwieriger ist es, die heimkehrenden Soldaten wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Mitte November trifft das 55. Infanterie-Regiment in seiner Heimatgarnison Detmold ein. Mit Flugblättern versucht der Volks- und Soldatenrat die Heimkehrer republikfreundlich zu stimmen.
Längst nicht alle Soldaten sind Anhänger der Revolution. Wie hier in Münster werden überall in Deutschland ehemalige Soldaten, die sich in Freikorps zusammengeschlossen haben, gegen die "radikalen Auswüchse" der Revolution mobilisiert. Schnell sind diese Verbände für ihr martialisches Auftreten und ihr skrupelloses Vorgehen bekannt und berüchtigt.
Die Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung ist für diese Herren ein wichtiges Anliegen. Was liegt also näher, als eine Bürgerwehr zu gründen, um die radikalen Revolutionäre in die Schranken zu weisen - der Unterstützung durch die Freikorps können sie sich sicher sein.
Am 13. März 1920 putschen die Generäle Walther von Lüttwitz und Erich Ludendorff mit dem Generallandschaftsdirektor Wolfgang Kapp gegen die Reichsregierung in Berlin. Dieser Kapp-Lüttwitz-Putsch entfacht im Ruhrgebiet besonders schwere Kämpfe.
Republikfeindliche Ansichten, Frust über den verlorenen Krieg, und das "Schanddiktat" von Versailles ergeben eine explosive Mischung! Dazu kommen die alten reaktionären Eliten der ehemaligen Monarchie, die das Rad der Geschichte zurückdrehen wollen. Diese Soldaten im Ruhrgebiet kommen eigentlich aus Bayern, sind aber auf Befehl des kommandierenden Generals v. Watter Richtung Dortmund unterwegs, um für "Ruhe und Ordnung" zu sorgen. Sie gehören zu einer der vielen Freikorpseinheiten (Freiwilligenverbände), die größtenteils rechtskonservative und republikfeindliche Ansichten vertreten.
Vor allem Arbeiter treten den Putschisten entschieden entgegen und greifen zu den Waffen. Auch in Dortmund machen sich die Anhänger der Roten Ruhrarmee auf den Weg zur Front. Diese verläuft oft nur ein paar Häuserblocks entfernt. Insgesamt etwa 50.000 Kämpfer machen mobil im sogenannten Ruhraufstand gegen die nationalkonservativen Putschisten.
Ziviler Ungehorsam in Form eines landesweiten Generalstreiks macht nach 100 Stunden Schluss mit dem Kapp-Lüttwitz-Putsch. Scheinbar hat das aber keiner der Roten Ruhrarmee mitgeteilt. Einige Teile kämpfen weiter um die politische Macht im Ruhrgebiet. Es kommt zu blutigen Gefechten, so wie Ende März/Anfang April 1920 in Hamm-Pelkum. Dabei wird auch eine Eisenbahnbrücke gesprengt.
Der Ruhraufstand wird schließlich brutal niedergeschlagen. Und dies ausgerechnet von denselben Freikorps- und Reichswehreinheiten, die zuvor zu den Kapp-Lüttwitz-Putschisten gehörten. Fast stolz posieren hier Angehörige der Reichswehr in Möllen bei Duisburg am 2. April 1920 vor erschossenen Kämpfern der Roten Ruhrarmee.
Nach der Niederschlagung des Ruhraufstandes marschiert eine bayerische Freikorpsbrigade am 6. April 1920 in Dortmund ein. Damit ist die Rote Ruhrarmee besiegt. Der Graben zwischen Teilen der militanten Arbeiterbewegung und der sozialdemokratisch geführten Regierung vertieft sich immer weiter. Bei den Reichstagswahlen zwei Monate später erleidet die SPD auch deshalb eine schwere Niederlage.
1919 herrscht Aufbruchsstimmung im Deutschen Reich: Erstmals dürfen alle Deutschen ab 20 Jahren über alle Klassen- und Geschlechtergrenzen hinweg an der Wahl zur Nationalversammlung teilnehmen. Bis 1933 werden die Deutschen noch acht weitere Male den Reichstag wählen. Mit großem Aufwand kämpfen die politischen Parteien um Stimmen - wie hier das Zentrum 1930 in Essen. Von Anfang an unterscheidet sich das Wahlverhalten der Menschen im Westen von dem im übrigen Deutschland: Die gemäßigten demokratischen Kräfte schneiden hierzulande deutlich besser ab. Dennoch haben auch an Rhein und Ruhr radikale Parteien spätestens seit 1932 viel Zulauf.
Mit Artikel 22 der Weimarer Verfassung wird das allgemeine, gleiche, unmittelbare und geheime Wahlrecht eingeführt. Erstmals erhalten nun auch Frauen das aktive und passive Wahlrecht. Das Mindestwahlalter wird von 25 auf 20 Jahre gesenkt. Alle erwachsenen Deutschen dürfen somit wählen gehen - vorausgesetzt sie haben einen Wohnsitz im Deutschen Reich.
Die Wahlkreise im Westen orientieren sich an den ehemaligen preußischen Regierungsbezirken, die weit über das heutige NRW hinausreichen: Die Rheinprovinz ist in vier Wahlkreise aufgeteilt: Köln-Aachen, Düsseldorf-Ost (u. a. mit Essen und Solingen) und Düsseldorf-West (u. a. mit Duisburg und Oberhausen) sowie Koblenz-Trier. Die Provinz Westfalen umfasst zwei Wahlkreise: Westfalen-Nord (u. a. mit Münster und Minden inklusive der Länder Lippe und Schaumburg-Lippe) sowie Westfalen-Süd (u. a. mit Arnsberg, Dortmund und Bochum).
Die Wahl zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 elektrisiert die Menschen - eine Welle der Mobilisierung geht durch das Land. Vor den Wahllokalen bilden sich lange Schlangen, 83 % der Wahlberechtigten geben ihre Stimme ab.
Mit einem Mal werden Frauen für die Parteistrategen interessant, schließlich sind 54 % aller Wahlberechtigten weiblich! Während Frauenverbände an die zukünftigen Wählerinnen appellieren, ihre neue Rolle als gleichberechtigte Staatsbürgerinnen selbstbewusst zu nutzen, verharrt die Parteiwerbung vielfach bei alten Vorstellungen. Wahlplakate der Deutschen Volkspartei (DVP) etwa wenden sich an Frauen meist in ihren traditionellen Rollen als "Hüterin des Heims", als Gattin, Hausfrau und Mutter.
Nicht nur die Sozialdemokratie, sondern auch das katholische Zentrum wirbt mit diesem Sehnsuchtsblick in die Zukunft für die Wahl zur Nationalversammlung. Die im Rheinland mit dem Zusatz "Christliche Volkspartei" auftretenden Katholik_innen verbinden damit jedoch nicht die Hoffnung auf eine klassenlose Gesellschaft, sondern beziehen sich in ihrem Plakat auf das Deutsche Reich, von dem kurz zuvor das Gebiet um Eupen und Malmédy an Belgien abgetreten werden musste. Ihre Hoffnung gilt einer friedvollen und geeinten belgisch-deutschen Grenzregion.
Die Wahl zur Nationalversammlung endet mit einer großen Überraschung: Zwar wird die SPD mit rund 38 % wie erwartet stärkste Kraft im Reich, sie bleibt aber deutlich hinter ihren Erwartungen zurück. In der Weimarer Nationalversammlung bildet die SPD eine Art Koalition mit dem Zentrum und der linksliberalen DDP, die daher den Namen Weimarer Koalition erhält. Im Westen dagegen liegt das Zentrum mit mehr als 40 % der Stimmen vorne. Nur in einigen Großstädten und Industriestandorten wie Essen und Düsseldorf setzen sich die sozialistischen Parteien durch.
Der Katholik aus dem Sauerland gilt als einer der einflussreichsten Sozialpolitiker des Kaiserreichs und der frühen Weimarer Republik. Als Professor für Christliche Gesellschaftslehre an der Universität Münster sitzt er schon seit 1884 für die Zentrumspartei im Reichstag. 1919 wird er in die Nationalversammlung gewählt und ist dort maßgeblich an der Ausarbeitung der Verfassungsartikel zur Sozial- und Schulpolitik beteiligt. Bis zu seinem Tod gehört er dem Reichstag an und verhilft unter anderem dem Betriebsrätegesetz zur Mehrheit.
Der katholische Geistliche und gebürtige Trierer wird für den Wahlbezirk Koblenz-Trier mit einem Stimmenanteil von 57,9 % in die Weimarer Nationalversammlung gewählt. Der Dozent am Trierer Priesterseminar ist erst im selben Jahr dem Zentrum beigetreten. In Weimar arbeitet er als Experte für Kirchenrecht im Verfassungsausschuss mit. Bis 1933 ist er durchgängiges Mitglied des Reichstages und von 1928 bis 1933 Vorsitzender des Zentrums. Unter seiner Führung rückt die Katholikenpartei deutlich nach rechts.
Der Journalist wird 1919 für den Bezirk Köln-Aachen in die Nationalversammlung gewählt und bleibt bis 1933 ununterbrochen Mitglied des Reichstags. Bereits 1903 tritt Sollmann in die SPD ein und engagiert sich in der Lebensreformbewegung.
1920 wird er Chefredakteur der "Rheinischen Zeitung". Zwei Jahre zuvor lenkte er gemeinsam mit Konrad Adenauer das Revolutionsgeschehen in Köln in geordnete Bahnen. Im August 1923 übernimmt er für vier Monate das Amt des Reichsinnenministers.
Die überzeugte Sozialdemokratin (rechts im Bild) wird 1919 als eine von insgesamt 41 Frauen (gegenüber 382 männlichen Abgeordneten) in die Nationalversammlung gewählt. Wie ihr Parteikollege Sollmann kandidierte sie im Bezirk Köln-Aachen. Zusammen mit ihrer älteren Schwester Marie Juchacz (links) arbeitete Röhl während des Ersten Weltkrieges in der Heimarbeitszentrale. In Weimar fordert Röhl die Gleichstellung unehelicher Mütter und Kinder mit Ehefrauen und ehelichen Kindern.
Bei der Reichstagswahl vom Juni 1920 erleidet die Weimarer Koalition aus SPD, Zentrum und DDP eine schwere Niederlage. Reichsweit büßt sie 40 % ihrer Mandate ein. Die SPD verliert vor allem in den Großstädten an Rhein und Ruhr Stimmen an die linke USPD. In Düsseldorf etwa votieren 36 % für die USPD, die SPD kommt nur auf 6,9 %. In katholischen Gebieten wie dem Landkreis Münster dominiert das Zentrum mit 85 % deutlich. Auch in Köln bleibt das Zentrum mit 35,9 % stärkste Kraft vor der SPD (26,3 %).
Selbstbewusst kommen diese drei weiblichen USPD-Abgeordneten im Januar 1920 zur Eröffnung des Reichstags nach Berlin. Neben der Sozialistin und Frauenrechtlerin Clara Zetkin (Mitte) sieht man die Bochumerin Lore Agnes (links) und Mathilde Wurm. Noch gehört das Trio zu einer kleinen Minderheit: In der Nationalversammlung und den insgesamt acht Reichstagen bis 1933 finden sich während der Weimarer Republik durchschnittlich nur 6,5 % weibliche Abgeordnete.
Nach dem Tod Friedrich Eberts im Februar 1925 wird zum ersten Mal ein Reichspräsident durch Direktwahl vom Volk bestimmt. Der erste Wahlgang am 29. März 1925 bringt kein klares Ergebnis: Keiner der Kandidaten kommt auch nur in die Nähe der erforderlichen absoluten Mehrheit. Für den zweiten Wahlgang einigen sich die demokratischen Parteien auf den Kölner Zentrumspolitiker und ehemaligen Reichskanzler Wilhelm Marx (links). Die Rechtsparteien kontern mit der Kandidatur von Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg. Dieser hat im ersten Durchgang noch gar nicht zur Wahl gestanden.
Hinter dem Zentrumskandidaten Marx - hier bei einer Wahlkundgebung im Berliner Sportpalast - versammeln sich die gemäßigten bürgerlichen Parteien und die Sozialdemokraten im sogenannten Volksblock. Die SPD zieht sogar ihren eigenen Bewerber zurück, um den Kompromisskandidaten zu stärken. Die Rechtsparteien verzichten ihrerseits auf ihren Kandidaten aus dem ersten Durchgang, den Duisburger Oberbürgermeister Karl Jarres. Er räumt trotz guter Ergebnisse seinen Platz für den bereits 78-jährigen Hindenburg.
Die Stichwahl am 26. April 1925 wird zur Richtungswahl zwischen zwei Lagern: Beide Kandidaten treten energisch im Wahlkampf auf, den ihre Parteibündnisse mit vollem Einsatz führen. Eine Flut von Wahlplakaten wirbt mit den Verdiensten, die Marx als bisheriger Reichskanzler für die Republik bereits erbracht hat: "Marx, der die Inflation bezwang, Hindenburg, der sie wiederbringt". Die hohe Wahlbeteiligung von 77,6 % (1. Wahlgang: 68,9 %) zeigt die starke Mobilisierungskraft des Wahlkampfes.
Die Stichwahl am 26. April 1925 wird zur Richtungswahl zwischen zwei Lagern: Beide Kandidaten treten energisch im Wahlkampf auf, den ihre Parteibündnisse mit vollem Einsatz führen. Eine Flut von Wahlplakaten wirbt mit den Verdiensten, die Marx als bisheriger Reichskanzler für die Republik bereits erbracht hat: "Marx der die Inflation bezwang, Hindenburg der sie wiederbringt". Die hohe Wahlbeteiligung von 77,6 % (1. Wahlgang: 68,9 %) zeigt die starke Mobilisierungskraft des Wahlkampfes.
Als Sieger der Schlacht bei Tannenberg 1914 über die russische Armee genießt Hindenburg den Nimbus alter Größe. Anhänger von Wilhelm Marx bringen hingegen Karikaturen in Umlauf, die das "wahre Gesicht" Hindenburgs aufdecken sollen. Hinter der Maske des "Helden von Tannenberg" vereint er hier das Großkapital, die nationalsozialistische Gefahr und die alten Eliten des Kaiserreichs.
In den protestantisch geprägten Gebieten des Westens ist Hindenburg als Verkörperung des alten Preußen populär. Hier nimmt die Wahlwerbung für Hindenburg fast religiöse Züge an, wie etwa auf einem Blatt des Landkreises Meisenheim, der als protestantische Exklave der Rheinprovinz angehört. Im April 1925 wird darin ein Lobgedicht auf Hindenburg veröffentlicht, in dem er als Retter gerühmt wird.
… so hätte Wilhelm Marx die Präsidentschaftswahl klar gewonnen! So aber entscheidet Hindenburg den zweiten Wahlgang mit nur 3 % Vorsprung (48,3 % gegenüber 45,3 %) für sich. Im Rheinland und in Westfalen hat man dagegen mit teilweise überwältigenden Mehrheiten für Wilhelm Marx gestimmt. In einigen Kreisen, wie etwa in Monschau oder Warendorf, gewinnt der Rheinländer Marx über 90 % der Stimmen. Hindenburg hingegen findet nur in einigen wenigen evangelisch-pietistisch geprägten Gebieten Zuspruch.
Die schwere Wirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit und soziales Elend begünstigen seit 1930 den Aufstieg der Republikfeinde von Links- und vor allem Rechtsaußen. Aggressiv machen sie Stimmung gegen die demokratische Verfassung und das vermeintlich undeutsche Parteiengezänk. Auch im Westen schlägt sich ihr Erfolg nieder: Bei der Reichstagswahl im Juli 1932 kann die NSDAP - hier einige ihrer Plakate auf einer Kölner Litfaßsäule - ihren Stimmenanteil verdoppeln. Als nun stärkste Partei stellt sie mit Hermann Göring erstmals sogar den Reichstagspräsidenten.
Nach dem triumphalen Ergebnis vom Juli ist der Ausgang der Reichstagswahl vom November 1932 für die NSDAP ernüchternd. Besonders im Westen bleibt die NSDAP wie schon bei vorangegangenen Wahlen weit unter dem reichsweiten Durchschnitt. In seinen katholischen Hochburgen bleibt das Zentrum hingegen stabil. Auf ihren Plakaten inszeniert sich die Partei als Beschützerin der Familie und Bollwerk gegen das drohende Chaos. Im Landkreis Münster stimmen überwältigende 70 % für das Zentrum, während die NSDAP dort nur 11,4 % erreicht.
Am 15. Januar 1933 - zwei Wochen vor der sogenannten Machtergreifung - wird die Landtagswahl in Lippe zum nationalen Ereignis. Die NSDAP nutzt die eigentlich kaum bedeutsame Wahl in dem Zwergstaat für eine beispiellose Propagandaschlacht. Hitler tritt in Lippe 17 Mal in elf Tagen auf - wie hier in Lemgo am 11. Januar. Tatsächlich geht die NSDAP aus der Wahl als mit Abstand stärkste Kraft hervor, was die Nationalsozialisten als Bestätigung ihres Aufwärtstrends werten. Danach kommt Hitler bis 1945 nur noch einmal nach Lippe.
1933 sichern die Nationalsozialisten ihre Macht im Reichstag endgültig ab. Bei der bestenfalls noch halbfreien Reichstagswahl im März 1933 erreicht die NSDAP zwar 43,9 % der Stimmen. Im Westen liegt die NSDAP mit durchschnittlich 34 % allerdings deutlich hinter dem reichsweiten Ergebnis. Das Zentrum kommt in Koblenz-Trier auf 40,9 %, in Köln-Aachen auf 35,9 %. Mit der Machtübernahme Hitlers - hier mit Gauleiter Grohé auf der Saarausstellung in der Kölner Messe - endet die freiheitliche Demokratie der Weimarer Republik.
Auch im Westen Deutschlands bekommen ab den späten 1920er nationalistische, völkische und rassistische Bewegungen wachsenden Zulauf. 1923 erreicht die Gewalt von rechts außen einen ersten Höhepunkt. Nach Jahren relativer Ruhe löst die Wirtschaftskrise 1929 eine neue Welle der Radikalisierung aus. Auch in Westfalen und Lippe findet der Nationalsozialismus früh begeisterte Anhänger_innen. Die Landtagswahl im Zwergstaat Lippe im Januar 1933 wird schließlich zum Prolog des „Dritten Reichs“.
Von Beginn an wird der Versailler Vertrag und die in ihm festgelegte Besetzung des Rheinlands als Demütigung empfunden. Als besonders schmachvoll empfinden es viele Deutsche, dass sich vor allem unter den französischen Besatzungstruppen zahlreiche schwarze Kolonialsoldaten befinden. In rassistischen Kampagnen wird gegen die "farbige" Besatzung durch "Negersoldaten" Stimmung gemacht. Oft spielen dabei auch Vorurteile über die angebliche sexuelle Übergriffigkeit der Soldaten und der angeblich von ihnen eingeschleppten Krankheiten eine Rolle.
Jüdische Bürger_innen sind schon in der Weimarer Republik von Ausgrenzung und aggressiver Verfolgung bedroht - so auch in Rheinland und Westfalen, wo es viele jüdische Gemeinden gibt. Allein die Kölner Innenstadt zählt drei große Synagogen, zahlreiche Betstuben und jüdische Einrichtungen. Friedhöfe und Synagogen werden immer wieder Zielscheibe von Anschlägen. Die Verfolgung der Täter wird nicht selten mit nur geringem Einsatz betrieben: Nach einer Friedhofsschändung 1928 in Köln-Ehrenfeld fehlt von den "politisch motivierten" Tätern angeblich jede Spur.
"Schandbare Judenwirtschaft im Freistaat Lippe" - unter diesem Titel verfasst und verbreitet 1920 der Gymnasiallehrer Friedrich Fischer in Detmold ein antisemitisches Flugblatt. In Anspielung auf seine deutschnationale Gesinnung gibt er sich das Pseudonym "Germanikus".
Im westfälischen Gladbeck verwüsten zwei Jugendliche Anfang 1929 jüdische Grabsteine und schneiden Blumen ab, die dort zum Gedenken an die Verstorbenen gepflanzt worden waren. Die CV-Zeitung, das Publikationsorgan des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, berichtet später über die Täter, die zu drei bzw. vier Monaten Gefängnis verurteilt werden. Die Jungen waren kurz zuvor aus der NSDAP ausgetreten mit der Begründung, die Bewegung sei ihnen "nicht radikal genug".
Die Empörung über den offenen Antisemitismus im Rheinland und in Westfalen sorgt in der jüdischen Glaubensgemeinschaft weltweit für besorgte Reaktionen. So berichtet sogar Davar, die hebräische Zeitschrift des britischen Mandatsgebiets in Palästina, von der Schändung des kleinen jüdischen Friedhofs im abgelegenen Dorf Rödingen 1930: "14 Grabsteine wurden zerstört. Dies ist der 82. Fall einer Schändung eines jüdischen Friedhofes in Deutschland. Am Tag vor der Schändung gab es eine Versammlung von Faschisten in Rödingen."
Anlässlich einer Tagung in Köln appelliert der Verein zur Abwehr des Antisemitismus in seinem Publikationsorgan Abwehr-Blätter 1926 an den "versöhnlichen und klugen Geist im Rheinland". Er fordert die Menschen auf, den kritiklosen Judenhass der völkischen Rechten zu hinterfragen. Der bereits 1890 gegründete Verein will über die jüdische Kultur aufklären und irrationale Behauptungen über die Minderwertigkeit von Juden und stereotype Vorwürfe entlarven, wie etwa den des Ritualmords.
Ganz andere Töne schlägt die in Köln herausgegebene Antisemitische Zeitung an. Das selbst ernannte "christliche Abwehrblatt" verbreitet mit aggressiven Parolen antisemitische Stereotype, wie "Der Marxismus ist ein jüdisches Produkt!", die genau so auch in der nationalsozialistischen Ideologie vorkommen. Herausgeber ist Hubert Longerich, der später Chef der Anzeigenabteilung des Westdeutschen Beobachters wird, eines Parteiblatts der NSDAP.
Im Wahlkampf vor den Reichstagswahlen 1932 verschärft sich der antisemitische Terror auch im Rheinland. Im August kommt es in Köln zu gleich zwei gezielten Anschlägen auf die großen Synagogen. Beim Überfall auf die Synagoge in der St.-Apernstraße wird ein jüdischer Kaufmann aus der Schweiz von Nationalsozialisten verletzt. Vor der Synagoge an der Roonstraße (hier ein Bild aus dem Jahr 1900) detoniert eine Granate nur deswegen nicht, weil ihr Zünder defekt ist. Hinter den unbekannten Tätern vermutet das Kölner jüdische Wochenblatt Anhänger völkischen Gedankenguts.
In einem öffentlichen Brief drückt der Kölner Erzbischof Karl Joseph Kardinal Schulte 1932 dem Kölner Gemeinderabbiner Dr. Ludwig Rosenthal sein tiefes Bedauern aus. Nach erneuten Schändungen jüdischer Friedhöfe ruft er die deutsche Bevölkerung auf, sich energisch gegen den immer radikaler werdenden Antisemitismus zu stellen. Die CV-Zeitung druckt diese Bekundung christlicher Solidarität in seiner April-Ausgabe ab.
Auch in Düsseldorf berichtet die Presse Anfang der 1930er Jahre von gezielten Verunglimpfungen, die rechtsradikale Gruppierungen in einer nächtlichen Aktion an die Große Synagoge in der Kasernenstraße geschmiert haben. Die Täter haben die Wände des Gebäudes mit roten Hakenkreuzen und brutalen Beschimpfungen wie "Juda verrecke" verunstaltet.
In Trümmern liegt das Druckereigebäude der sozialdemokratischen Zeitung Der Volkswille in Münster. Die Täter sind vermutlich Mitglieder der NSDAP-Ortsgruppe, die bei ihrem Anschlag am 24. Juni 1923 Tote und Verletzte in Kauf nehmen. Besonders perfide: Der Anschlag findet am ersten Jahrestag der Ermordung des Reichsaußenministers Walther Rathenau statt. Dieser war aufgrund seiner jüdischen Herkunft den extremen Rechten besonders verhasst.
Zu einer Protestveranstaltung gegen die "widerrechtliche" Inhaftierung "unseres großen Führers" ruft die Münsteraner NSDAP im November 1924 auf. Hitler werde "hinter Kerkermauern festgehalten", heißt es reißerisch auf dem Werbeplakat zu der Kundgebung, zu der "Nichtdeutsche" (sprich Jüd_innen) keinen Zutritt haben. Dabei wird Hitler nach seinem gescheiterten Putschversuch 1923 in München zu einer äußerst milden Festungshaft verurteilt, aus der er schon 1925 wieder entlassen wird.
In bayerisch anmutender Tracht marschieren SA-Anhänger 1932 auf (vermutlich in Dortmund). Seitdem die preußische Regierung im Juni 1930 ein Uniformverbot verhängt hat, sieht man die SA meist in weißen statt braunen Hemden. Lederhosen tragen ihre Anhänger, um damit symbolisch ihre Verbundenheit mit München auszudrücken. Die bayerische Hauptstadt gilt den Hitler-Anhänger_innen als "Hauptstadt der Bewegung".
Auch in Hamm prägen SA-Männer in weißen Hemden und Lederhosen 1930 das Bild in der Öffentlichkeit. Hier sind sie vor dem örtlichen Kriegerdenkmal aufmarschiert, um den Bezirkstag der NSDAP abzuhalten. Kriegerdenkmale sind gern genutzte Treffpunkte für Aufmärsche von Rechtskonservativen und Völkischen, um die Deutungshoheit über den Weltkrieg für sich zu beanspruchen. Der Bevölkerung soll damit signalisiert werden, dass hier die "wirklichen" Veteranen stehen, während alle anderen als Drückeberger und Verräter diffamiert werden.
Das Hermannsdenkmal bei Detmold - ein anderes herausragendes Symbol der völkisch-nationalistischen Bewegung. Es erinnert an den Germanen Arminius, genannt Herrmann der Cherusker, der angeblich im Teutoburger Wald im Jahre 9 n. Chr. die Römer siegreich geschlagen hat. Die Nationalsozialist_innen verwenden es im Januar 1933 als Motiv im Wahlkampf für die Landtagswahl in Lippe. Die eigentlich fast bedeutungslose Wahl in dem Zwergstaat 1933 wird aber wegen der Propagandaschlacht der NSDAP überall in Deutschland beachtet.
Nach Kriegsende steht die Weimarer Republik vor gewaltigen sozialen Herausforderungen. Zehntausende Soldaten kommen schwer verwundet aus dem Krieg zurück, gezeichnet von den traumatischen Erfahrungen, unter denen sie weiter leiden. Vier lange Kriegsjahre und eine schlechte Versorgungslage haben auch in der Heimat unzählige Menschen ausgezehrt. Hinzu kommen Wohnungsnot, Verelendung und eine hohe Arbeitslosigkeit. Trotz aller Probleme formuliert die Sozialpolitik der Weimarer Republik einen hohen Anspruch: Sie garantiert den Rechtsanspruch auf öffentliche Fürsorge und will gleichzeitig den Hilfsbedürftigen nach dem Grundsatz "Hilfe zur Selbsthilfe" größere Eigenständigkeit einräumen.
Abertausende von Kriegsheimkehrern sind versehrt. Entstellte Gesichter und fehlende Gliedmaßen - ganz abgesehen vom seelischen Leid - sind die sichtbaren Folgen des jahrelangen Krieges. Um wenigstens einen Teil der Kriegsversehrten wieder in Arbeit zu bringen, entsteht z. B. im katholischen Josefsheim Bigge bei Brilon eine Drechslerei als Ausbildungsstätte für Kriegsversehrte und Erwerbsbeschränkte.
Die riesige Zahl an Kriegsversehrten führt zu einem veränderten Umgang mit körperlich Behinderten. Zum ersten Mal wird die professionelle Fürsorge für Menschen mit Handicap als eine wichtige staatliche Aufgabe begriffen. Im Rheinland und in Westfalen gründen neben den Kirchen und Kommunen auch die beiden Provinzialverbände (heute Landschaftsverbände) Einrichtungen zur Gesundheitsfürsorge, wie die Taubstummenanstalt in Langenhorst (Kreis Steinfurt)...
...und - wie hier zu sehen - das Frauenwohnheim einer Blindenanstalt in Soest.
In der Weimarer Republik soll Schluss sein mit dem Wegsperren psychisch Kranker und geistig Behinderter in sogenannte Irrenhäuser. Erste vielversprechende Reformansätze und neuartige Therapieformen kommen in den Heil- und Pflegeanstalten der Provinzialverbände den Patient_innen zugute. Neben einer Arbeitstherapie für psychisch Kranke gibt es auch kreative und unterhaltende Angebote, um "Lebensfreude und Gemeinschaftssinn" zu fördern. Mit Erfolg: Patient_innen der Anstalt Eickelborn haben offenbar viel Spaß bei einer Theateraufführung von Wallensteins Lager im Jahr 1927.
Um der grassierenden Arbeitslosigkeit Herr zu werden, gründen die Kommunen und Provinzialverbände Arbeitsämter. Aufgabe dieser Behörde ist es, den Arbeitslosen eine kleine Erwerbslosenfürsorge auszuzahlen (im Volksmund "stempeln gehen") und den Betroffenen so schnell wie möglich wieder Arbeit zu vermitteln. Diese Aufgabe geht 1927 in die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung über.
Im Frühjahr 1932 wird "stempeln gehen" zu einem Massenphänomen: Auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise sind sechs Millionen Menschen in Deutschland arbeitslos. Dieser Herausforderung ist die Weimarer Republik mit ihren noch schwachen Sozialsystemen nicht gewachsen: 1930 zerbricht die letzte parlamentarische Regierung unter Reichskanzler Hermann Müller (SPD) an einer Detailfrage der Arbeitslosenversicherung.
Als die Zuwendungen für das wachsende Heer an Arbeitslosen in der Folgezeit weiter gekürzt werden, kommt es verstärkt zu Protestdemonstrationen. In Lippe ruft die KPD im April 1932 zu einem Sternmarsch auf Detmold auf. Zwischen den 1.200 Teilnehmer_innen und der Polizei kommt es zu einer blutigen Straßenschlacht.
Schon in den ersten Nachkriegsjahren wird der Hunger zu einer einschneidenden Erfahrung für viele Menschen. Anfang der 1920er Jahre stellen Ärzt_innen bei vielen Schulkindern eine "ausgeprägte Blutarmut" fest - untrügliches Zeichen für eine andauernde Mangelernährung. Milchspeisungen an Schulen sollen die schlimmste Not lindern. Finanziert werden diese vor allem durch Spenden von US-amerikanischen und britischen Quäker_innen sowie von Volksküchen, die meist von privaten Vereinen getragen werden.
Schon in den ersten Nachkriegsjahren wird der Hunger zu einer einschneidenden Erfahrung für viele Menschen. Anfang der 1920er Jahre stellen Ärzt_innen bei vielen Schulkindern eine "ausgeprägte Blutarmut" fest - untrügliches Zeichen für eine andauernde Mangelernährung. Milchspeisungen an Schulen sollen die schlimmste Not lindern. Finanziert werden diese vor allem durch Spenden von US-amerikanischen und britischen Quäker_innen sowie von Volksküchen, die meist von privaten Vereinen getragen werden.
Kenner_innen des Zauberbergs von Thomas Mann werden sich bei dieser Szene an den Roman erinnert fühlen. Patient_innen erholen sich bei der Freiluftliegekur im Kurwald Bad Lippspringe. Die bereits seit dem 19. Jahrhundert angewandte Methode gilt als erfolgreiches Heilverfahren zur Behandlung der Lungentuberkulose. Konnten sich diese Anwendung im Kaiserreich nur Wohlhabende leisten, erhalten nun auch weniger betuchte Kranke diese Liegekuren über ihre Krankenkasse verschrieben.
Neben Krankheit, Hunger und Arbeitslosigkeit zählt die Wohnungsnot zu den großen Herausforderungen der jungen Republik. Um kostengünstigen Wohnraum bereitstellen zu können, wird u. a. bereits 1918 die Westfälische Heimstätten GmbH als erste provinzielle Wohnungsbaugesellschaft in Preußen gegründet. Der Verband erlangt Vorbildcharakter für den sozialen Wohnungsbau und beeinflusst maßgeblich die Gesetzgebung in Preußen.
Auch neue Formen des Zusammenlebens werden in der Weimarer Republik ausprobiert, um bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Gemäß den Prinzipien "Selbsthilfe, Selbstverwaltung und Selbstverantwortung" errichtet die sozialdemokratische Baugenossenschaft Freie Scholle bereits 1914 erste Genossenschaftswohnungen für ihre Mitglieder. Zehn Jahre später verwirklicht der Verein mit der Siedlung "Heeper Fichten" in Bielefeld ein weiteres gemeinnütziges Wohnbauprojekt. Zur Siedlung gehören großzügige Gemeinschaftseinrichtungen wie ein Waschhaus, Kinderhort, eine Bibliothek, eine Arztpraxis mit einer Mütterberatungsstelle und preiswerte Läden des Konsum-Vereins.
Nach Kriegsende ist Schluss mit Protz und Prunk - auch in der Architektur. Ein neuer klarer, heller und funktionaler Baustil wie in der Naumannsiedlung in Köln-Riehl hält im Westen Einzug. Gefragt sind vor allem Mietwohnungen, denn die sind knapp und teuer. Laut Artikel 155 der Weimarer Verfassung steht jedem und jeder Deutschen eine "gesunde Wohnung" zu - ein hoher Anspruch, der erst einmal verwirklicht werden muss.
Nicht nur eine "gesunde Wohnung", sondern ausdrücklich eine "ihren Bedürfnissen entsprechende Wohn- und Heimwirtschaftsstätte" fordert die Weimarer Verfassung für alle deutschen Familien, "besonders die kinderreichen". Die Lebenssituation dieser Gelsenkirchener Familie ist davon jedoch weit entfernt: Acht Personen müssen sich zwei Zimmer teilen. Eng, dunkel, feucht und muffig ist es in den Wohnungen, doch mehr gibt das Familienbudget nicht her. Dies ist kein Einzelfall.
Hinter solchen Zeitungsanzeigen steckt nichts Anzügliches: Viele Familien sind derart klamm, dass sie ihre Schlafkammer tagsüber an Arbeiter_innen untervermieten müssen, die in Nachtschicht arbeiten. Diese "Schlafgänger" wärmen tagsüber das Bett vor und gehen am Abend zur Arbeit. Anschließend begibt sich die vermietende Familie in denselben Betten zur Ruhe. Bei solch beengten Verhältnissen ist an Privat- oder auch Intimsphäre nicht zu denken.
Raus aus der Mietskaserne - rein ins Reihenhäuschen. Für 300 vor allem kinderreiche Familien in Duisburg wird dieser Traum 1927 wahr. Mit der Dickelsbachsiedlung entstehen Wohnungen, die bescheidenen Luxus bieten. So verfügt jede Wohnung hinter der schlichten Bauhaus-Fassade über drei Schlafzimmer, eine Toilette und sogar einen kleinen Garten! Die roten Backsteine geben ihr schon bald den Spitznamen "Blutwurst-Siedlung".
Kaum ist der Krieg für Deutschland verloren, beginnen im Dezember 1918 französische, belgische, britische und US-amerikanische Truppen mit der Besetzung der linksrheinischen Gebiete. Laut dem Versailler Friedensvertrag (1919) sollen die alliierten Siegermächte 15 Jahre bleiben. Doch für die besiegten Deutschen kommt es noch schlimmer: 1923 marschieren Belgier und Franzosen - wie hier am Essener Hauptbahnhof - im Ruhrgebiet ein. Rheinische Separatisten sehen darin ihre Chance gekommen. Für einen Moment scheint die Einheit Deutschlands auf dem Spiel zu stehen …
Die besetzten Gebiete erstrecken sich vom niederrheinischen Kleve bis zum pfälzischen Pirmasens. Jede Siegermacht bekommt eine Zone zugewiesen, diese wechseln allerdings häufig. Zwischen 1923 und 1925 ist auch das Ruhrgebiet und damit ein Teil Westfalens besetzt. Bereits ab 1926 beginnen die Alliierten sukzessiv mit dem Abzug ihrer Truppen, im Jahr 1930 verlassen schließlich die letzten französischen Truppen Mainz.
Die Besatzer richten ihre Hauptquartiere in einigen Großstädten ein, um hier ihre Verwaltung aufzubauen. In Köln beziehen die Alliierten das zentral gelegene Hotel Excelsior Ernst am Hauptbahnhof. Vor dem Dom lassen sie Panzer auffahren, um unmissverständlich die neuen Machtverhältnisse zu demonstrieren.
Auch in der Fremde wollen diese Angehörigen des britischen Militärs nicht auf ihre Gewohnheiten verzichten: Bei einem Pferderennen in Köln pflegen sie die traditionelle Tea-Time-Zeremonie. Mit den Besatzungssoldaten gelangen auch ihre kulturellen Bräuche und alltäglichen Lebensgewohnheiten an den Rhein.
Koblenz wird Hauptsitz der obersten Besatzungsbehörde, der Interalliierten Rheinlandkommission. Die sogenannte Irko nimmt ihre Arbeit im April 1919 im Oberpräsidium der Rheinprovinz in der Kronprinzenstraße auf (heute Stresemannstraße). Neben Frankreich, das wegen seiner besonders großen Kriegsschäden der Behörde vorsteht, gehören der Irko Belgien, Großbritannien und die Vereinigten Staaten an.
Präsident der Besatzungsbehörde wird der Franzose Paul Tirard. Zu seinen Aufgaben gehört es, für die reibungslose Zusammenarbeit zwischen Besatzern und den deutschen Behörden vor Ort zu sorgen. Tirard verfolgt eine Politik, die die kulturelle und historische Verbundenheit des Rheinlands mit Frankreich betont. Dabei unterstützt er auch separatistische Kräfte, die Preußen und dem Reich den Rücken kehren wollen.
Im Herbst des Krisenjahres 1923 rufen Separatisten in Köln die "Rheinische Republik" aus. Weitere Ausrufungen folgen in Aachen, Krefeld, Düren und Duisburg. Schon 1919 haben hochrangige Politiker, darunter Konrad Adenauer, kurzzeitig über eine größere Autonomie für das Rheinland nachgedacht. Die Separatisten aber wollen mehr. Ihre Anhänger_innen fordern einen von Preußen losgelösten Rheinstaat.
Straßenschlachten zwischen Separatisten, empörten Bürger_innen und der Polizei sind im Herbst 1923 in mehreren rheinischen Städten an der Tagesordnung. Im Aachener Rathaus eskaliert die Situation, als wütende Bürger_innen das besetzte Gebäude zurückerobern wollen und dabei den altehrwürdigen Kaisersaal verwüsten.
Heute erinnert an die Siebengebirgsschlacht nur noch dieser 1935 errichtete Gedenkstein in Aegidienberg (heute zu Bad Honnef gehörend). Im November 1923 kommt es hier zu Plünderungen und den blutigsten Ausschreitungen zwischen Befürwortern und Gegnern des Rheinstaates. Die Plakette erinnert lediglich an die "kerndeutschen Arbeiter und Bauern", die ihr Blut zur "restlosen Vernichtung der Separatisten" vergossen haben.
Im Januar 1923 besetzen französische und belgische Truppen weite Teile des Ruhrgebiets, um die Reichsregierung für ausbleibende Reparationszahlungen abzustrafen. Die Deutschen reagieren mit passivem Widerstand gegen diese völkerrechtlich fragwürdige Maßnahme. Tausende Arbeiter_innen und Angestellte legen ihre Arbeit nieder und verweigern fortan Befehle der Besatzer.
Angesichts der angespannten Lage im Ruhrgebiet kontrollieren die Besatzer 1923 den Zugang ins Ruhrgebiet streng. Ausgestellt werden nun Personalausweise wie dieser für einen jungen Mann aus Lünen - "gültig nur für die Einreise in das [französisch] besetzte Gebiet".
Die Ruhrbesetzung verschärft die anti-französische Propaganda umgehend. Die "Marianne" als Verkörperung des "Erbfeinds" dient dabei als dankbares Motiv. Seit dem berühmten Gemälde Die Freiheit führt das Volk (1830) von Eugène Delacroix ist sie eine Ikone der Französischen Revolution und ihrer Ideale. Auf provokativen Plakaten und Flugblättern werden nun Nationalsymbole wie "Marianne" gezielt verunglimpft: Dargestellt als fratzenhaftes Flintenweib, das sich das Ruhrgebiet unter den Nagel reißt.
Die Ruhrbesetzung verschärft die anti-französische Propaganda umgehend. Die "Marianne" als Verkörperung des "Erbfeinds" dient dabei als dankbares Motiv. Seit dem berühmten Gemälde Die Freiheit führt das Volk (1830) von Eugène Delacroix ist sie eine Ikone der Französischen Revolution und ihrer Ideale. Auf provokativen Plakaten und Flugblättern werden nun Nationalsymbole wie "Marianne" gezielt verunglimpft: Dargestellt als fratzenhaftes Flintenweib, das sich das Ruhrgebiet unter den Nagel reißt.
Auch unverblümter Rassismus gehört wie selbstverständlich zu den antifranzösischen Kampagnen. Zielscheibe der Propaganda sind insbesondere dunkelhäutige Soldaten aus den Kolonien. Ihnen wird sexuelle Übergriffigkeit gegenüber deutschen Frauen unterstellt. Dazu kommt die Angst vor angeblich eingeschleppten Krankheiten und eine generelle Arroganz gegenüber den vermeintlich "kulturlosen Schwarzen".
Zu den Highlights der patriotischen Feierlichkeiten zählen 1925 die Jahrtausendausstellungen in Köln und Aachen. Beide ziehen Massen von Besucher_innen an. Die Krönungsausstellung im Aachener Rathaus zeigt wertvolle Exponate zu den Königskrönungen aus der Zeit des mittelalterlichen Reichs. "Deutsches Wesen tut sich dabei kund", heißt es dazu lobend in der Rheinischen Tageszeitung.
Die Jahrtausendausstellung der Rheinlande in den Messehallen Köln-Deutz versteht sich als Konkurrenzveranstaltung zu der in Aachen. Auf dem 1924 eröffneten Messegelände wird mit Tausenden von Objekten eine kunst- und kulturgeschichtliche Schau zur Geschichte des Rheinlands gezeigt. 1,4 Mio. Besucher_innen verfolgen das Spektakel.
Noch weitaus gelöster feiern die Menschen der besetzten Gebiete das Ende der Besatzung: Anlässlich des Abzugs der britischen Truppen findet in der Nacht zum 1. Februar 1926 eine riesige Befreiungsfeier vor dem Kölner Dom statt. Zur Feier des Tages gibt der Bürgermeister Konrad Adenauer allen Kölner Kindern schulfrei.
Die hochemotionale nächtliche Befreiungsfeier in Köln wird im Rundfunk live übertragen - es ist die erste Livesendung im Deutschen Rundfunk überhaupt! In seiner euphorischen Rede vor dem Kölner Dom erklärt Adenauer in dieser Nacht:
"Auf diesem geheiligten Platz haben die fremden Truppen gestanden; laßt uns ihm von neuem die Weihe geben! Ein Symbol der deutschen Einheit und Einigkeit ist unser Dom, wie Schwurfinger ragen seine mächtigen Türme empor in den nächtlichen Himmel."
In seiner Rede zur Feier der Räumung der ersten Besatzungszone des Rheinlands gibt sich Reichspräsident Hindenburg 1926 betont national. Vor Repräsentant_innen und Bürger_innen der Stadt Köln beschwört er das Deutschtum des Rheinlandes. Die Tonaufnahme dieser Rede wurde nachträglich im Studio aufgenommen.
Im Juli 1930 geht nach gut elfeinhalb Jahren schließlich auch die Besatzung des südlichen Rheinlandes zu Ende. Koblenz begeht das langersehnte Ereignis mit einem großen Fest am Deutschen Eck. Mit dem Ende der Besatzungszeit endet auch die Sonderrolle des Rheinlandes, die seit Ende des Ersten Weltkrieges das Reich beschäftigt hat.
Wohl kaum! Mit dem Ende des Weltkriegs steht auch die westdeutsche Wirtschaft vor großen Veränderungen, allen voran die dringend notwendige Umstellung von Kriegs- auf Friedenswirtschaft. Arbeitnehmer_innen und Gewerkschaften fordern lang vorenthaltene Rechte ein. Das Wegbrechen von Absatzmärkten zwingt die Unternehmen dazu, ihre Kräfte in gewaltigen Trusts und Kartellen zu bündeln. Nach einer kurzen wirtschaftlichen Blüte Mitte der 1920er Jahre trifft der Börsencrash 1929 auch die rheinisch-westfälische Wirtschaft mit voller Härte: Massenarbeitslosigkeit und wachsende Verzweiflung unter den Betroffenen sind die fatalen Folgen.
Schon im Kaiserreich kommt es an Rhein und Ruhr immer wieder zu Kraftproben zwischen Arbeitnehmer_innen und Unternehmern. Die Arbeiter_innen im Ruhrgebiet wissen um ihre enorme Bedeutung für die Schlüsselindustrien und treten daher vermehrt für ihre Interessen in den Ausstand, wie 1905 die Bergarbeiter in Gelsenkirchen.
Wenige Tage nach Kriegsende, am 15. November 1918, schließen führende Vertreter von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden das sogenannte Stinnes-Legien-Abkommen. Verunsichert von den Ereignissen der Revolution, erkennen die Unternehmer erstmals Arbeitnehmer_innen als gleichberechtigte Verhandlungspartner_innen an.
Seinen Namen verdankt das Stinnes-Legien-Abkommen den beiden Verhandlungsführern. Für die Arbeitnehmer_innenseite unterzeichnet der Vorsitzende der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, Carl Legien (links, 1861-1920), federführend für die Arbeitgeber ist der rheinisch-westfälische Industrielle Hugo Stinnes (rechts, 1870-1924).
RWKS - das Logo des Rheinisch-Westfälischen Kohlekartells steht für die Macht der großen Syndikate während der Weimarer Republik. Mit den Kartellen sollen die Firmen der einheimischen Schlüsselindustrien zusammengefasst und so vor der ausländischen Konkurrenz geschützt werden. Auch der Vertrieb der Kohle untersteht im Ruhrgebiet den Syndikaten, die damit in ihrem jeweiligen Gebiet eine Monopolstellung gewinnen.
Auch in der Stahlindustrie fusionieren Einzelunternehmen zu immer größeren Einheiten. 1926 gründet die Thyssen Gruppe mit gleich fünf Mitbewerbern die Vereinigte Stahlwerke AG. 1929 wird das "Stummhaus" in Düsseldorf als Hauptsitz eröffnet. Gleichzeitig verlagert sich jedoch die Produktion weg aus den alten rheinischen Revieren bei Aachen in die Region Rhein-Ruhr.
Ob Firmenpatriarch Hugo Stinnes hier selbst noch den Überblick hatte? Als Paradebeispiel für die Bildung von Trusts Anfang der 1920er Jahre gilt in diesen Jahren der Stinnes-Konzern. In Zeiten von Outsourcing und Verschlankung heute kaum noch vorstellbar: Im Trust sollten sich Unternehmen organisieren, die möglichst alle Produktionsschritte abdeckten.
Ein Blick in die Seidenspinnerei der Vereinigten Seidenwebereien (Verseidag), die 1920 aus der Fusion mehrerer Krefelder Betriebe hervorgehen. Noch ahnt niemand, dass eines Tages fast alle Textilien aus Ländern wie Bangladesch und Pakistan kommen werden. Die Hochburgen der Textilindustrie im Westen heißen damals Krefeld, Mönchengladbach, Wuppertal-Elberfeld und die Regionen Minden-Ravensberg und Westmünsterland.
Neben den Textilien selbst werden im Westen auch die Maschinen für ihre Herstellung produziert, allen voran im Bergischen Land und am Niederrhein. Satinier-Kalander nennt man die riesige Anlage, die aus der Krefelder Maschinenfabrik Kleinewefers stammt. Sie dient dem Glätten und Stauchen der Stoffe, damit diese später beim Waschen nicht eingehen.
Zuverlässig verrichtet die Franz Haniel I nach ihrem Umbau vom Dampf- zum dieselbetriebenen Radschlepper ihren Dienst auf dem Rhein. Für den Schlepper gibt es im Jahr 1929 viel zu tun: Transportschiffe haben eine große Bedeutung für die rheinisch-westfälische Industrie und machen den Fluss zur vielgenutzten Wasserstraße.
Neben den klassischen Industriebranchen Kohle und Stahl, Maschinenbau und Textil boomt in den Weimarer Jahren auch die noch junge Chemieindustrie. Am Standort Hürth-Knapsack bei Köln produziert die "Aktien-Gesellschaft für Stickstoffdünger" große Mengen für die Landwirtschaft.
Am 2. Dezember 1925 entsteht durch den Zusammenschluss von acht Unternehmen die Interessengemeinschaft Farbenindustrie AG (IG Farben) - ein gigantisches Industriekartell mit Sitz in Frankfurt. Zu den Partnern der IG Farben gehören auch die Bayerwerke in Leverkusen sowie die chemischen Fabriken Weiler-ter Meer in Uerdingen. Die hier gezeigte Karte der Standorte entsteht nach dem Zweiten Weltkrieg.
In der Weimarer Republik konkurrieren die Städte an Rhein und Ruhr um die Ansiedlung großer Industrieunternehmen, die üppige Steuereinnahmen und Arbeitsplätze versprechen. Als Glücksfall für Köln erweist sich die Entscheidung des amerikanischen Autoriesen Ford für den Standort Köln-Niehl im Jahre 1929 (hier eine Luftaufnahme von 1931).
Schon ein Jahr später, im Oktober 1930, legt Oberbürgermeister Konrad
Adenauer den Grundstein für die neuen Fordwerke - mit dabei ist auch Firmengründer Henry Ford (links im Hintergrund mit Zylinder und weißem Schnauzbart). In kürzester Zeit entwickeln sich die rheinischen Fordwerke zum größten Kraftwagenproduzenten im Deutschen Reich.
… ist in der Weimarer Republik der Erwerb dieser Aktie - für die, die es sich leisten können, versteht sich. Im Windschatten der Fordwerke wachsen die Zuliefererbetriebe wie etwa die Deutzwerke, die 1930 mit den Humboldtwerken fusionieren. Köln wird dadurch zu einem bedeutenden Fabrikationsstandort für Motoren.
Wie Göttervater Zeus im Olymp schleudert auch der zornige Arbeitgeber 1928 seine Blitze auf die Industrie an Rhein und Ruhr. Anlass der Karikatur des Satireblatts Simplicissimus ist der sogenannte Ruhreisenstreit vom November 1928. Nach gescheiterten Verhandlungen zwischen den Tarifpartnern und ergebnisloser Schlichtung kommt es zu einem äußerst harten Arbeitskampf. Dieser gipfelt in der Aussperrung von rund 240.000 Beschäftigten in der Montanindustrie.
Im Jahr 1931 erreichen die Schockwirkungen der Weltwirtschaftskrise endgültig auch den Westen. Die Pleite der bedeutenden "Darmstädter und Nationalbank" (Danat) löst einen deutschlandweiten Run auf die Filialen aus. Kund_innen versuchen verzweifelt ihre Einlagen zu retten.
Die 1929 ausgebrochene Weltwirtschaftskrise trifft auch die Realwirtschaft mit voller Wucht. Der plötzlichen Absatzkrise versucht die Kohlewirtschaft zunächst mit angepassten Arbeitszeiten und Kurzarbeit zu begegnen. 1931/32 müssen dennoch die ersten Zechen und Kokereien schließen, wie etwa die Gutehoffnungshütte in Oberhausen.
Ungleich härter als in anderen Regionen Deutschlands trifft die Wirtschaftskrise die Arbeitnehmer_innen an Rhein und Ruhr. Der wirtschaftliche Tiefpunkt in der Schwerindustrie und dem Bergbau wird Anfang 1931 erreicht. Die Folge sind Massenkündigungen durch den Zechenverband, wogegen sich die Kumpel durch Streiks zur wehren suchen.
…erscheint den Menschen Anfang der 1930er Jahre die Aussicht auf einen Arbeitsplatz. Im Winter 1931/32 versammeln sich etwa in Dortmund Hunderte Arbeitssuchende, um sich auf eine einzige (!) Stellenausschreibung zu melden.
Not macht erfinderisch: In den 1920er Jahren planen der Ruhrverband und die Stadt Essen den Bau des Baldeneysees im Süden der Stadt. Doch erst im Juli 1931 beginnen die Arbeiten als groß angelegte Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Bis zu 2.000 arbeitslose Essener sind auf der Baustelle im Einsatz, zum Teil mit den primitivsten Arbeitsgeräten. Als Lohn erhalten sie zwischen 1,00 und 1,80 Reichsmark und eine warme Mahlzeit am Tag.