Wie aus der Zeit gefallen wirkt diese Aufnahme eines Wandervogel-Mädchens aus dem Jahr 1925. Lange vor 1968 und den "Neuen sozialen Bewegungen" der 1970er und 1980er Jahre ist die Weimarer Republik ein Experimentierfeld zur Erprobung neuer Formen von Gemeinschaft, Erziehung und Lebensstil. Das veränderte gesellschaftliche Klima wird genutzt, um Grenzen auszutesten. Zwar bleiben die Experimente Randerscheinungen, dennoch identifiziert sich gerade die Jugend mit manch frischen Ideen.
Grau und ungesund ist der Alltag für viele Schüler_innen, besonders in den rußgeschwärzten Industriestädten des Ruhrgebiets. Der Gelsenkirchener Lehrer Richard Schirrmann (hier mit einer Schulklasse um 1920) will das zu Beginn des Jahrhunderts nicht mehr hinnehmen. Seinen Schülern verordnet er daher ausgedehnte Wanderungen zu jeder Jahreszeit, um die körperliche und seelische Gesundheit zu fördern und die Sinne für die Schönheit der Natur zu öffnen. "Schulhaus Natur" nennt er seinen reformpädagogischen Erziehungsansatz, der bei den Schulbehörden zunächst gar nicht gut ankommt. Zur Strafe wird er in das sauerländische Städtchen Altena versetzt.
Schirmanns Wanderlust bleibt jedoch ungebrochen: 1914 eröffnet der Pädagoge auf Burg Altena (Märkischer Kreis) die erste Jugendherberge der Welt. In den Weimarer Jahren wird sie zum Anziehungspunkt nicht nur für Schulklassen und Wandergruppen. Musik- und Theateraufführungen machen die altehrwürdige Burg Altena zu einem alternativen Kulturzentrum, in dem sich Jugendliche fern der elterlichen Enge ausprobieren können.
Nachdem Schirrmann 1922 seinen Lehrerberuf endgültig an den Nagel gehängt hat, widmet er sich ganz der Jugendarbeit. Mit dem Kinderdorf Staumühle bei Bad Lippspringe gründet Schirrmann 1925 ein Ferienlager für bedürftige Kinder aus dem Ruhrgebiet. Dass das Kinderdorf auf einem ehemaligen Truppenübungsplatz liegt, passt zum Konzept seiner demokratischen Friedenserziehung. Im "Kindergemeinderat" (hier beim Beratschlagen) sollen die jungen Bewohner_innen verantwortliche Mitsprache lernen.
Auf dem Programm stehen neben
Sport, Spiel und Wandern vor allem Tanz und Theater, wie hier im Jahr 1930. Mit diesen Ansätzen soll ein demonstrativer Gegenpol zu den autoritären Erziehungsmethoden der Zeit geschaffen werden. Nach Ende der Weimarer Republik wird das Gelände des Kinderdorfs wieder gemäß seiner früheren Bestimmung genutzt: Es wird wieder zur Kaserne und später zum SS- und Kriegsgefangenenlager ausgebaut.
Zu Beginn der Weimarer Republik zerfällt die im Kaiserreich populäre Wandervogelbewegung in mehrere Strömungen. Gemein ist allen jedoch weiterhin die Skepsis gegenüber der modernen Massengesellschaft. Technik, Kommerz und die Verlockungen der Großstadt lehnen die Jugendbünde ab - als Gegenmodell propagieren sie ein "Erlebnis der Einfachheit" im Einklang mit der Natur. Zum Ausdruck gebracht wird dies etwa bei einer Tanzdarbietung wie hier in Wetter 1930. Politisch changieren die Wandervogel-Bünde zwischen Modernisierungskritik und völkischer Deutschtümelei.
Züchtig gekleidet, dabei fröhlich und selbstbewusst präsentiert sich eine Clique weiblicher Wandervögel im Sommer 1922 auf Schloss Heessen in Hamm. Erst am Vorabend des Ersten Weltkriegs war es auch Mädchen und männlichen Volksschülern erlaubt, beim Lebensstil der Wandervögel mit Wanderfahrten, Lagerleben, Tanz und Musik mitzumachen. Heftig umstritten bleibt bei diesen Bünden in den 1920er Jahren jedoch, ob Mädchen und Jungen gemeinsam wandern dürfen.
Eine Sonnenwendfeier in Hamm 1928 zeigt beispielhaft, wohin die Reise für viele der Wandervogel-Nachfolger geht. Ihr Heil suchen sie im Nacheifern einer vermeintlich edlen germanischen Vorzeit mit entsprechenden Mythen und Ritualen. Die betont völkische Gesinnung vieler Anhänger_innen erinnert an den späteren Alltag in der Hitlerjugend, der ab 1933 für Millionen junger Deutscher obligatorisch wird.
Die Weimarer Jahre eröffnen auch die Chance auf neue Formen des Zusammenlebens: Auf der Suche nach Abgeschiedenheit und künstlerischer Inspiration zieht im Frühjahr 1919 eine Gruppe junger Künstler_innen aus dem Kölner Raum in die Nordeifel. Im abgelegenen Simonskall nahe der belgischen Grenze gründen sie fernab der von den Alliierten besetzten Großstadt eine politisch links orientierte Wohngemeinschaft, der sie den Namen Kalltalgemeinschaft geben.
Zu den ständigen Bewohner_innen der Kommune gehören unter anderem das Schriftsteller-Ehepaar Jatho sowie der prominente Maler und Bildhauer Franz Wilhelm Seiwert. In der kreativen Atmosphäre des Künstlerzirkels entstehen in kurzer Zeit zahlreiche Publikationen mit literarischen, grafischen und gesellschaftskritischen Beiträgen - die sogenannte Kalltalpresse. Zu ihren Publikationen gehört Der Strom, der zwischen 1919 und 1920 in sieben Heften erscheint, hier mit einem Holzschnitt von Seiwert als Deckblatt aus dem Jahr 1919.
Von Beginn an ist der gebürtige Kölner Franz Wilhelm Seiwert (1894-1933), später in den 1920er Jahren ein prominenter Vertreter der "Kölner Progressiven", an dem Wohnprojekt Kalltalgemeinschaft beteiligt. Lange hält er es im abgelegenen Simonskall jedoch nicht aus - Seiwert kehrt bereits im Spätherbst 1919 nach Köln zurück. Später kritisiert Seiwert in seinen Schriften das Leben in der Kommune als weltentrückte Robinsoninsel.
Köln entwickelt sich neben Berlin in den 1920er Jahren zu einem der wichtigsten Zentren der homosexuellen Subkultur. Zahlreiche einschlägige Lokale bieten für schwule und lesbische Gäste Unterhaltung wie Konzerte, Kabarett und Travestie. Schwulen Männern ist es in der Weimarer Republik nicht gestattet ihre Sexualität öffentlich auszuleben. Der berüchtigte § 175, der bereits 1872 ins Strafgesetzbuch aufgenommen wurde und bis 1994 in der Bundesrepublik existierte, verfolgt homosexuelle Handlungen mit teils hohen Freiheitsstrafen. Zu heimlichen Treffpunkten entwickeln sich gezwungenermaßen häufig Parks und öffentliche Toiletten wie hier im Kölner Stadtgebiet das Pissoir Trankgasse am Rheinufer.